Homöopathie bei ADHS – Nachfolgestudie zur Studie von Frei et al.

Meine allererste Analyse hier auf dem Blog betraf die Studie von Frei et al. aus dem Jahr 2005 zur homöopathischen Behandlung von ADHS (hier). Wir kamen zu dem Schluss, dass man diese Studie eher als Nachweis einer Unwirksamkeit betrachten kann. Einer der damaligen Co-Autoren hat am 30.11.2013 auf einem Symposium  in der Universitätsklinik München eine Langzeitstudie vorgestellt, die sich an die Frei-Studie angeschlossen hat. Diese Pressemitteilung darüber ist Anlass, die veröffentlichte Zusammenfassung zu betrachten – was wiederum Anlass ist, den folgenden Brief an die Verantwortlichen zu senden.

Sehr geehrte Frau Dr. Kruse,

In einer Pressemitteilung, die am 29.11.2013 auf der Internetplattform ‚idw-Informationsdienst Wissenschaft‘ veröffentlicht wurde, sind Sie als Ansprechpartnerin benannt. In dieser Mitteilung wird über den Vortrag zu einer Langzeitstudie der homöopathischen Behandlung von Kindern mit ADHS berichtet. Es werden dabei die folgenden Aussagen getroffen:

  1. 74 Prozent der behandelten Patienten profitierten [von der homöopathischen Behandlung] auch noch nach zehn Jahren.

  2. Die 2005 von Frei et al. veröffentlichte Studie zum Thema weise nach, dass die homöopathische Einzelmitteltherapie eine effektive (…) Alternative sei.

Beide Aussagen treffen nicht zu. Es erscheint angeraten, die entsprechenden nach außen gegangenen Informationen zu berichtigen.

Die folgenden Ausführungen zur Begründung beziehen sich auf den Vortrag, wie er schon auf dem GIRI Symposium in Bern im September 2013 von den gleichen Autoren gehalten wurde [1]. Nach der Beschreibung dort handelt es sich um eine Langzeitstudie, die sich an die Untersuchungen von Frei et al. anschloss [2]. Als Ergebnis wird berichtet, dass nach einer zehnjährigen unverblindeten Therapie  38 von 62 Kindern (62 %) nicht mehr medikamentös bzw. homöopathisch behandelt würden. Des Weiteren seien bei insgesamt 18 Kindern Verbesserungen erzielt worden, wobei 6 ausschließlich homöopathisch behandelt worden seien, 9 mit Methylphenidat und 3 mit beiden Medikamenten gleichzeitig. Sechs Kinder waren nich in der Langzeitstudie enthalten.

Zu 1:

Zunächst ist es prinzipiell fragwürdig, aus einer Verlaufsstudie ohne Kontrollgruppe eine Aussage zur Wirksamkeit der eingesetzten Therapie abzuleiten. Es braucht wohl nicht weiter erläutert zu werden, dass bei Unkenntnis des natürlichen Krankheitsverlaufs nicht darauf geschlossen werden kann, welchen Anteil die Therapie an den Geschehnissen hat.

Für den Fall der ADHS liegen allerdings Vergleichsdaten vor: Einer Veröffentlichung der Bundesärztekammer aus dem Jahre 2005 [3] kann entnommen werden (Kapitel 6.1), dass bei 60 bis 70 % der Fälle eine Remission der Beschwerden bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter so weit erfolgt, dass die diagnostischen Kriterien nicht mehr erfüllt werden. Diese Aussage stützt sich auf insgesamt vier Studien aus den Jahren 2002 bis 2004 ab.

Nach den Angaben von [2] waren die Kinder bei Start der Studie durchschnittlich 10 Jahre alt (Bereich 7 bis 15 Jahre). Folglich waren die Studienteilnehmer zum Berichtszeitpunkt 20 Jahre alt, der allergrößte Teil dürfte die Pubertät zumindest weitgehend überwunden haben.

Man kann sicherlich darüber diskutieren, ob die Kriterien ‚es erfolgt keine Therapie mehr‘ und ‚die Diagnosekriterien liegen nicht mehr vor‘ gleichwertig sind. Im ersteren Fall könnte es durchaus sein, dass die Betreffenden gelernt haben, mit der Symptomatik umzugehen oder durch ein geändertes Umfeld vielleicht der Leidensdruck nicht mehr in dem Maße besteht, dass eine Therapie erforderlich wäre. Wie immer man dies auch wertet – dass 62 % der früheren Teilnehmer in einem Durchschnittsalter von 20 Jahren als mehr oder weniger ‚problemfrei‘ betrachtet werden können, liegt durchaus in dem Rahmen, den man offenbar beim natürlichen Verlauf der Beschwerden erwarten würde. Selbst ein Anteil von insgesamt 74%, die eine Verbesserung erzielt hätten, erscheint durchaus nicht außergewöhnlich.

Dies wäre ein Widerspruch zur Annahme, dass mit dem Ergebnis eine langfristige Wirksamkeit der homöopathischen Behandlung nachgewiesen wäre.

Wie von Frei et al. in [2] beschrieben, sollten mit Aufnahme der homöopathischen Therapie alle weiteren parallelen Therapien unterbleiben. In der Folge wurden dann in unverblindeter Einnahme durchaus beträchtliche Verbesserungen erzielt. In [1] erfahren wir jedoch, dass inzwischen mindestens 12 der Kinder wieder konventionell mit Methylphenidat behandelt werden. Diese Angaben sind jedoch nicht vollständig, beziehen sie sich doch ausschließlich auf die Gruppe der 18 Kinder, die zwar noch therapiert werden, aber Verbesserungen erzielt hätten.

Man wird davon ausgehen können, dass es einen Ausdruck der Unzufriedenheit mit den Erfolgen der Therapie darstellt, wenn die Eltern zusätzlich zur Homöopahie auf die konventionelle Medikamentengabe zurückgriffen oder gar ganz darauf umgestellt haben. Mithin haben also mindestens 12 Kinder nicht von der homöopathischen Behandlung profitiert.

Die Autoren berichten nicht, ob sich in der Gruppe der nicht mehr therapierten Testpersonen auch solche befinden, die zuvor ebenfalls zusätzlich oder komplett konventionell behandelt wurden. Da es jedoch keinen Anlass gibt, eine Remission bei konventioneller Behandlung auszuschließen, können wir davon ausgehen, dass sich auch hier solche Testpersonen finden, wenn auch vielleicht nicht in dem hohen Prozentsatz wie bei der Gruppe der Erfolgreichen.

Mithin ist zu konstatieren, dass bei 12 + X Kindern die Homöopathie langfristig keinen Erfolg brachte. Bezogen auf die 56 Kinder, die tatsächlich in der Langzeitstudie betrachtet wurden, ist das ein Anteil von (21 + X) %. Da es, wie oben bereits gesagt, keine Veranlassung gibt, eine Remission bei konventioneller Medikamentierung auszuschließen, wird X größer als null sein, wenn auch in unbekanntem Maße.

Quintessenz:

Die Aussage, dass 74 % der Probanden von der Homöopathiebehandlung profitiert hätten, ist somit nicht haltbar, weil bei 21 + X % kein Erfolg eingetreten ist und in hohem Ausmaß auch der natürliche Krankheitsverlauf das Ergebnis ganz erheblich beeinflusst haben dürfte. Diese Aussage ist somit ganz sicher unzutreffend.

Zu 2:

Die Studie von Frei et al. wurde an anderer Stelle ausführlich analysiert [4], so dass hier eine Zusammenfassung genügt:

  • Die ohne Zweifel vorliegenden Verbesserungen nach der Aufnahme der homöopathischen Behandlung können verursacht worden sein durch:
    – Wechsel der statistischen Vergleichsbasis
    – Placeboeffekt
    – natürlicher Verlauf nach der Erstdiagnose
    – parallele nichtmedikamentöse Behandlungen
    Dass der Erfolg bei einem großen Teil der Probanden offenbar nicht von langfristiger Natur war, spricht für einen starken Einfluss des Placeboeffekts.

  • Der reklamierte Vorteil der Homöopathie-Therapie von weniger als zwei CGI-Punkten liegt weit unterhalb der Auflösung des Messverfahrens.

  • Drei der vier Arme der Crossover-Phase zeigen Ergebnisse, die der Annahme wirksamer homöopathischer Medikamente zuwiderlaufen. Die Autoren führen zur Erklärung zwei sich gegenseitig widersprechende Effekte ein – einen Carry-Over-Effekt des Medikaments und die Auswirkungen der Erwartung einer Placebogabe bei den Eltern. Diese Effekte sollen aber gruppen- und zeitspezifisch immer in die Richtung gewirkt haben, dass die Auswirkungen von Gabe oder Wegnahme der Medikamente zu kleineren Werten verfälscht worden wären. Der vierte Arm erreichte (wahrscheinlich zufällig) das erwartete Ergebnis, so dass hier die in allen drei anderen Armen zur Erklärung herangezogenen Effekte nicht in Betracht gezogen wurden. Eine Begründung für das Vorhandensein dieser Effekte, oder gar ein plausibler Nachweis dafür, sind in der Studie nicht gegeben. Ohne diese Effekte spricht das Ergebnis der Crossover-Phase deutlich gegen eine Wirksamkeit der homöopathischen Behandlung.

Bei einer unvoreingenommenen Bewertung der Studie lassen sich somit eher Belege für eine Unwirksamkeit der homöopathischen Behandlung ermitteln als für eine Wirksamkeit. Damit ist eine entsprechende Aussage, die Studie weise eine Wirksamkeit nach, nicht gerechtfertigt.

Mit freundlichen Grüßen

 

Literatur:

[1] v. Ammon K, Sauter U, Kretschmar S, Frei H, Thurneyson A, Frei-Erb M: ‚Long-term effects of homeopathic treatment in children suffering from attention deficit disorder with and without hyperactivity‘, in: Int J High Dilution Res 2013; 12 [44]: 119-120, Link

[2] Frei, H., Everts, R., v. Ammon, K., Kaufmann, F. Walther, D. et al..:
‚Homeopathic treatment of children with attention-deficit hyperactivity disorder: A randomised, double blind, placebo controlled crossover trial‘, in: European Journal of Pediatrics (2005) 164: 758-767 Link

[3] Bundesärztekammer ‚Sellungnahme zur Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – Langfassung -‚ , 2005, Kapitel 6.1., Link

[4] Aust, N: ‚Anwendung individueller homöopathischer Medikamente bei ADHS – Studie von H. Frei et al., Universität Bern (2005 / 2006)‘, Blog ‚Beweisaufnahme in Sachen Homöopathie‘, Link 

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10 Antworten zu Homöopathie bei ADHS – Nachfolgestudie zur Studie von Frei et al.

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  5. Norbert Aust sagt:

    Da habe ich vielleicht etwas missverständlich zitiert. In der Pressemitteilung wird festgestellt, das 74 % der damals behandelten Kinder auch 10 Jahre später ohne die Einnahme von chemischen Psychostimulanzien auskommen, ich vermute, das ist eine im Vortrag getroffene Aussage. Im Kontext kann man schon entnehmen, dass dies als Erfolg gemeint ist. (Dabei ist zu sagen, dass über 44 Kinder berichtet wird, auf die dies zutrifft. Wenn dies 74 % sind, dann ist der Grundwert 59,46, was mit keiner der in der Studie angeführten Zahlen korrespondiert.)
    In der Zusammenfassung wird berichtet, dass alle Kinder erfolgreich behandelt wurden, 38 waren beschwerdefrei, die anderen 18 hätten eine Verbesserung erzielt. Daher habe ich nur die (21 + X) % als Fehlschläge angeführt.

  6. KeinAnfang sagt:

    Ich hätte eine Frage zu der Quintessenz Punkt 1

    Ich habe da eventuell etwas nicht komplett verstanden.
    Müsste es nicht (47+X)% heißen?
    Also (21+26+X)% Das ja 26% sowieso nicht von der Behandlung profitiert haben.
    Denn die 21% sind ja 12 Kinder, die vorher zu den Kindern gezählt wurden, die von der Behandlung profitieren, also zu den 74%.
    Was dann heißen würde (nach dem was über den normalen Krankheitsverlauf oben geschrieben wurde), dass Homöopathie deutlich schlechter wäre als bei einer normalen Therapie.

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  8. Ganz hervorragend. Ich werde diesen Blogbeitrag ganz sicher weiter geben. Ich hatte auch schon Bauchgrummeln als ich von der „Verlaufsuntersuchung“ gelesen haben. Eigentlich eine Unverschämtheit, das überhaupt als Studie zu bezeichnen…

  9. Norbert Aust sagt:

    Genau das ist eigentlich Sinn und Zweck meiner / unserer offenen Briefe. Ich würde die Reaktion auf jeden Fall posten – wenn es denn welche gäbe.
    (1) Zu meinem Brief an den BR kam eine Antwort, meine Stellungnahme dazu blieb unbeantwortet
    (2) Die Carstens-Stiftung, die Ute Parsch und ich angegangen waren, hat sich bisher nicht gemeldet. In der nächsten oder übernächsten Woche werden wir da weiterbohren…
    (3) Der Uniklinik München, die erst gestern angeschrieben wurde, muss man noch etwas Zeit geben…

    Wir werden den Leuten wohl weiter auf den Nerv gehen müssen.

  10. Rolf Wagels sagt:

    Sehr schön! Wäre es möglich, eventuelle Reaktionen hier zu veröffentlichen?
    Auch bei den anderen „offenen Briefen“?
    Danke!

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